

UND WENN SIE DOCH NICHT GESTORBEN SIND...
Oda Zuschneid inszeniert Roland Schimmelpfennigs „Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin“ als abenteuerliche Reise durch Andersens Märchen und darüber hinaus
Text: Marie-Luise Wenzel
Das Ende ist hier der Anfang. Anders als Hans Christian Andersen kündigt der Autor Roland Schimmelpfennig in seiner Fassung von „Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin“ gleich zu Beginn einen guten Ausgang an. Oda Zuschneid lädt in ihrer Inszenierung, die am Theater Regensburg Premiere feierte, das Publikum ein, den beiden Held:innen auf eine Reise voller Gefahren, Zufälle und sonderbarer Begegnungen auf eine Erinnerungsreise zu folgen. Wie findet man nach Hause, wenn man nie dazu gehörte?
Der Titel des Märchens verweist bereits auf den Ansatz, Andersens Märchen vom standhaften Zinnsoldaten auszubauen und der Papiertänzerin aus dem alten Frauenbild der Zuhausgebliebenen herauszuhelfen, die dort auf den heimkehrenden Soldaten wartet. Die Papiertänzerin bekommt eine dem Zinnsoldaten ebenbürtige, eigene Stimme.
Beide werden von dem Jungen, bei dem sie wohnen, aussortiert und landen auf seinem Fensterbrett. Der Zinnsoldat, der als letzter in seinem Regiment gegossen wurde und aus Mangel an Blei nur ein Bein erhalten hat, ist sofort fasziniert von der Tänzerin, die ihr eigenes Bein ihrer Berufung nach elegant in die Höhe streckt. Doch der Moment tiefer Verbundenheit hält nicht lange an – als der Südwind aufzieht und ein Windstoß die beiden erfasst, wirbeln sie aus dem Fenster hinaus und hinein in eine Welt, die nicht gut ist zu schutzbedürftigen Wesen.
TEMPO UND THEMEN
Die Inszenierung setzt auf die Vorstellungskraft des (jungen) Publikums ab acht Jahren, wobei die eher schlichte Nacherzählung der Abenteuer, von denen die beiden Figuren berichten, durch Tempo und schnelle Anschlüsse der Schauspieler:innen stets packend und spannend bleibt.
Alex Konrad erschafft mit unterschiedlichsten Soundkulissen die Welten, in denen sich der Soldat und die Tänzerin bewegen, und erweckt sie unterschwellig, doch mit großer Präzision zum Leben. Vor einem Bühnenbild, das an eine aufgeklappte Buchseite erinnert und die Spielzeug-Assoziationen noch einmal verstärkt, landet der Zinnsoldat in einem Rinnstein und treibt weiter in die Kanalisation, während die Papiertänzerin durch die Luft gewirbelt wird, bis in die Wolken und ein Elsternnest hinein. Sie macht Bekanntschaft mit einer überarbeiten Elster-Mutter von sechs Kindern, die um Unterstützung fleht. Er begegnet in der Kanalisation Ratten, die den Soldaten ohne Pass nicht passieren lassen wollen und ihm vorwerfen, nicht zu ihnen zu gehören.
Anspielungen auf gesellschaftliche Themen und politische Diskurse, die sich hinter den Begegnungen verbergen, werden deutlich sichtbar. Durch ein gelungenes Zusammenspiel von Technik, Requisiten und der Erzählweise der beiden Schauspieler:innen Natascha Weigang und Joscha Eißen bleiben die Erlebnisse der Figuren dabei unterhaltsam und abwechslungsreich.
WECHSELNDE PERSPEKTIVEN
Ganz im Sinne des epischen Theaters brechen die beiden Schauspieler:innen immer wieder die Erzählung, werden zu Kommentator:innen in ihrem eigenen Stück, sind Spielzeug, Spielfiguren und Spielende zugleich. Sie berichten von ihren Erlebnissen und bilden sie ab. Unter Einsatz ihrer eigenen Körperlichkeit, aber auch mit ihren figürlichen Abbildungen aus Papier und Zinn. Dabei wechselt das Publikum gemeinsam mit den Schauspieler:innen die Perspektiven, sieht die selben Situationen von außen und durch den Blick der Spielzeugfiguren selbst.
Die Leuchtreklame-Schilder mit den Aufschriften „Pass Auf/Wir brauchen ein Wunder/Willkommen“, die über ihnen aufleuchten, verstärken die Bilderbuch-Ästhetik der Inszenierung und fungieren zugleich als selbst festgesetzte Schlagwörter des Stücks, das mit seinen starken Bildern auch für sich sprechen könnte.
Nach den überstandenen Abenteuern treffen die beiden Figuren schließlich wieder aufeinander und begegnen noch einer weiteren Heldin der Geschichte: einem Mädchen. Das Kind nimmt sie bei sich auf, gibt ihnen endlich das Zuhause, das sie als Außenseiter:innen nie gefunden haben und bewahrt sie vor Andersens Ende der Geschichte: dem Tod im Feuer. Ebenbürtig und zeitgemäß aufgearbeitet wird hierbei zwar die Auslegung und das Verhältnis der Figuren zueinander, jedoch nicht unbedingt deren Verbindung. Auslöser hierfür ist – wie im Original – das fehlende Bein des Soldaten und das hochgestellte Bein der Tänzerin. Ihre Zuneigung wird allerdings schnell tiefer und wirft die Frage auf, ob es dieses Auslösers überhaupt bedarf. Das „fehlende“, hier angewinkelte Bein des Soldaten wird nur selten thematisiert und auch nur dann, wenn es gerade in die Handlung passt, was als unreflektierten Umgang mit dem Thema gelesen werden könnte. Fokus der Inszenierung von Oda Zuschneid ist auch nicht mehr die Standhaftigkeit der Liebe des Zinnsoldaten, sondern das Bestehen in der Welt durch Besonderheit – und die Aussicht darauf, einen Ort zu finden, an dem man willkommen geheißen wird und den man Zuhause nennen kann. Spätestens hier findet sich die Aktualität des neuen alten Märchens wieder.


WENN REGELN TANZEN
Ceren Oran zeigt in ihrem Stück „Spiel im Spiel“, dass Tanztheater auch Kinder ab drei Jahren unterhalten kann
Text: Judith Falentin
Brauchen wir feste Regeln, oder schränken sie uns nur ein? Das Ensemble Moving Borders stellt sich dieser Frage. Die drei Tänzer·innen befinden sich in einem Raum, der selbst keine Regeln vorgibt. Mit „Spiel im Spiel“ zeigt die Choreografin Ceren Oran, dass Regeln, genau wie ihre Abwesenheit, Freude und Inspiration bringen können.
Die Bühne ist leer, bis auf zwei graue Sichtschutzwände aus dehnbarem Stoff mit jalousieartigen Schlitzen. Der Stoff wird auseinandergezogen. Erst zwei, dann vier Augen suchen den Kontakt zum Publikum. Nach und nach zeigen sich immer mehr Körperteile, zwängen sich durch die flexiblen Lamellen. Sascha Paar kommt hervor und führt charmant und freundlich in das Geschehen ein. Er öffnet den Raum, indem er mit drei Holzhockern den Raum erkundet. Sie werden zu Treppen, Türmen und Brücken. Die einzige Vorgabe scheint zu sein, dass er den Boden unter gar keinen Umständen berühren darf.
REISEN DURCH DEN RAUM
Jin Lee und Maté Ásboth fügen sich in diese Welt ein, und bald bewegen sich alle drei nur mithilfe der Hocker durch den Raum. Genauso schnell wie diese Regel etabliert wurde, verschwindet sie wieder. Ásboth bringt eine Kiste mit Klamotten auf die Bühne, von denen er einige direkt aussortiert und hinter die Sichtschutzvorrichtungen wirft, wo sie von den anderen Tänzer·innen angezogen werden. Er selbst verkleidet sich als Blume. Als Lee und Paar wieder hervorkommen, ergibt sich ein interessantes Bild: Lee trägt eine Mütze, die sie klar als Fuchs kennzeichnet, und Paar erscheint als Pilot. Der Bezug zu Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ ist klar formuliert.
Gemeinsam erkunden sie die Bühne als diese Figuren neu und ziehen dabei die vielen Schichten an Klamotten wieder aus, legen sie auf den Boden und nutzen sie – ähnlich wie zuvor die Hocker – als Weg durch den Raum, ohne den Boden zu berühren. Wie die Figuren aus dem „Kleinen Prinz“ reisen sie durch den Raum wie von Planet zu Planet. Als sie bis auf die Badekleidung, die sie als letzte Schicht tragen, ausgezogen sind, sammeln sie die Kleidung wieder ein und setzen sich erschöpft in die Kiste, aus der Klamotten ursprünglich stammen.
UNTERHALTUNG OHNE WORTE
Daraufhin begeistert Jin Lee mit einem technisch starken Solo. Sie trägt weiße Turnschuhe an Händen und Füßen und geht auf allen Vieren über die Bühne, liegt, sitzt. Dann ergreifen die Schuhe Besitz von ihr. Der Kampf zwischen ihr und ihren Schuhen eskaliert zu einer beeindruckende Demonstration ihrer akrobatischen Fähigkeiten. Ihre Mimik zeigt dabei keine Anzeichen von körperlicher Anstrengung. Letztendlich gewinnt Lee den Kampf gegen ihre Schuhe, schmeißt sie weit von sich und gesellt sich wieder zu den anderen beiden. Das Stück endet mit einer Sequenz aus Physical Comedy, die wieder die Sichtschutzvorrichtungen zur Hilfe nimmt.
Die Choreografie von Ceren Oran wird passend durch die Musik von Gudrun Plaichinger untermalt und begleitet. Bühne und Kostüm, beides von Sigrid Wurzinger, verschmelzen ineinander. Kleidung wird an- und ausgezogen und als Requisite und Teil der Bühne wiederverwendet. Die Inszenierung schafft es, kindlichen Spaß am Austesten von Grenzen, Freude am Verkleiden und Entdeckungslust zu verkörpern, ohne zu typisieren oder Naivität zu unterstellen. „Spiel im Spiel“ ist reich an humorvollen Höhepunkten und unterhält effektiv, auch ohne Worte. Eine konstante Figurenzeichnung ist nicht zu erkennen, da die Inszenierung mehr auf fragmenthafte Momentaufnahmen setzt als auf eine durchgehende Entwicklung von Beziehungen zwischen den Charakteren. Im Vordergrund steht die Freude am Spiel, sowohl bei den Darstellenden als auch beim Publikum.


Laute Stille
Anna Stiepani nähert sich am Mainfranken Theater Würzburg mit „Das schweigende Klassenzimmer“ dokumentarisch einem Stück DDR-Geschichte
Text: Judith Falentin
Eine Gruppe von Schüler·innen entscheidet sich 1956 in der DDR, Farbe zu bekennen und sich politisch zu positionieren. Diese historischen Ereignisse hat Dietrich Garstka, selbst einer der Schüler, später in seinem Buch „Das schweigende Klassenzimmer“ aufgearbeitet. Regisseurin Anna Stiepani hat den Stoff am Mainfranken Theater Würzburg inszeniert. Ihr Ensemble schweigt stoisch, spricht bestimmt und behauptet sich bewusst. Die Staatsmacht reagiert mit Druck, Verhören und Abiturverbot. „Das schweigende Klassenzimmer” ist ein Theaterabend, der leise aber sicher nachhallt.
November, 1956. Etwa 30 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt hört die Abschlussklasse der Oberschule in Storkow in der DDR gemeinsam Westradio. Sie erfahren von der brutalen Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn. Von der Neuigkeit aufgewühlt, entscheiden sie sich, in der nächsten Unterrichtsstunde aus Trauer und Solidarität ein paar Minuten zu schweigen. Die männlichen Autoritäten werden allesamt glaubhaft und mit starker Präsenz von Georg Zeies verkörpert: der Geschichtslehrer Mosel, dessen Stunde dieser Aktion zum Opfer fällt; der Schuldirektor Schwarz, der sie milde kritisiert, aber davon absieht, das Geschehen zu melden; und der Volksbildungsminister
PROTEST MIT FOLGEN
Um ihre Idee in die Tat umzusetzen, begibt sich das Ensemble ins Publikum. Gemeinsam schweigen Zuschauende und Spielende den Lehrer auf der Bühne an, was er zuerst persönlich zu nehmen scheint. Böse funkelt er Schüler:innen und Publikum gleichermaßen an und fragt immer wieder Wissen ab, zunächst über den Spartakusbund, dann über Spartakus selber. Der revolutionäre Funke aus dem Unterrichtsstoff materialisiert sich in der Aktion der Schüler:innen.
Die Darsteller·innen stehen auf, wenn sie angesprochen werden, bleiben aber stumm. Nach exakt fünf Minuten brechen sie den Protest ab. Ein einzelner Schüler beschwert sich bei seinen Mitschüler:innen über die Spontanität der Aktion. Fritz Lange, der Volksbildungsminister in Stasi-Montur, verhört die Schüler·innen stundenlang und versucht erfolglos, Geständnisse oder Schuldzuweisungen aus ihnen rauszukriegen. Er entscheidet sich zu einem Manipulationsversuch. Dietrich, der sich aufgrund seiner zuvor schon auffälligen Aktivitäten im Visier der Stasi befindet, wird zum Sündenbock, weigert sich aber, dieses Narrativ anzunehmen. Obwohl seine Mutter versucht, ihn zum Bleiben zu bewegen, entscheidet er, nicht mehr zur Schule zu gehen. Als sich kein Schuldiger meldet, wird der gesamten Klasse ein Abiturverbot erteilt. Sie beschließen gemeinsam, das Land zu verlassen. 16 der 20 Schüler·innen fliehen über Westberlin nach Bensheim und machen ihr Abitur in Frankfurt am Main. Gefälschte Briefe von den jeweiligen Angehörigen, die sie zur Rückkehr bewegen sollen, kommen zwar an, treffen aber auf taube Ohren.
STATISCH, ABER AUTHENTISCH
Anna Wörl sorgt mit reduziertem Bühnenbild – rote Plastikstühle, verstreutes Papier, ein Radio und eine Schreibmaschine – für eine simple Schul-Atmosphäre. Die Lichtregie (ebenfalls Wörl und Stiepani) beleuchtet die inneren Konflikte der Schülerinnen und Schüler nicht effektheischend, sondern strukturiert die Szenen genauso akzentuiert wie die Emotionen im Raum. Die Rückwand der Bühne ist mit einem großen weißen Tuch verkleidet, auf das mit drei Overheadprojektoren Fotos und Berichte geworfen werden.
Anna Stiepani gelingt es mit klarer Erzählstruktur, die historischen Originaldokumente und Zeitzeugenaussagen pointiert einzubinden. Das Stück verzichtet auf übertriebene Dramatik zugunsten einer eher nüchternen Arbeitsweise und bewusst gesetzter Höhepunkte – was im Sinne des Erinnerungsauftrags wirkt. Durch den dokumentarischen Handlungsaufbau wirkt die Darstellung etwas statisch, aber authentisch. Obwohl die erzählte Geschichte durchaus rühren kann, fällt es schwer, sich auf die Figuren einzulassen. Es fällt leichter, die Klasse als Kollektiv, das sich gegenseitig schützt und stützt, wahrzunehmen. Es fehlt bei Zeiten an ausgebauten Figuren, die abholen, einladen und Spannung halten. „Das schweigende Klassenzimmer“ ist ein wichtiger, kluger Beitrag zur Bewahrung historischer Erinnerung. Er stellt moralische Fragen über Zivilcourage und Demokratie – ganz ohne didaktische Breitseiten.


Krieg und Liebe?
Maja Das Gupta versucht in ihrem Klassenzimmerstück "Tito, mein Vater und ich" eine komplexe Familiengeschichte im Kontext des Balkankrieges auszufächern
Text: Svenja Plannerer
Tamas hält entsetzt inne, als er das Foyer der 3. Etage im Schauspielhaus des Staatstheaters Nürnberg betritt. Er ist eigentlich gekommen, um hier die zwei fehlenden Szenen für seinen Film zu drehen, aber nichts ist vorbereitet. In wenigen Tagen soll Premiere sein, und sein Vater – der am selben Tag Geburtstag hat – soll den Film sehen. Wenn er diese zwei Szenen nicht im Kasten hat, war’s das mit dem Film.
Regisseurin und Autorin Maja Das Gupta hat das monologische Stück „Tito, mein Vater und ich” mit ihrem Ensemble entwickelt. Sonst wird es in Klassenzimmern vor Schüler·innen gespielt, das Südwindfestival holt es in Nürnberg zusätzlich vor ein öffentliches Publikum.
Tamas, der Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien hat, will in seinem Film die Geschichte seiner Eltern im Balkankrieg erzählen. Ihre Liebesgeschichte, die auch eine Kriegsgeschichte ist.
EIN PROTAGONIST MIT WUTPROBLEM
Sven Hussock spielt Tamas als Jungen mit einem Wutproblem, der zwischen güldener Selbstüberhöhung und tiefstem Selbstzweifel schwankt. Sympathisch ist er dabei nicht wirklich. Gleichzeitig schält sich nach und nach heraus, warum er so aufgebracht ist, schließlich hat er erst vor kurzem etwas über seinen Ursprung herausgefunden, das sein Verständnis seiner eigenen Identität zutiefst verstört. Seine Wut scheint mehr Ausdruck von Verzweiflung zu sein. Hussock ist dabei ständig nah dran an seinem Publikum, tigert zwischen den Tischen hin und her und gluckert gierig aus Coladosen. Manchmal holt er sich Zuschauende mit auf die Bühne, mit denen er Kampfchoreographien übt oder das romantische erste Treffen seiner Eltern nachspielt.
Diese Grundidee funktioniert gut. Nichtsdestotrotz ist „Tito, mein Vater und ich” mit Vorsicht zu genießen. Immer wieder reproduziert das Stück Stereotype und Beleidigungen über „die Serben” oder „die Bosnier”, „die Türken” und so weiter, die sich zum Teil bis heute hartnäckig halten. Diese sollen im nächsten Moment wieder dadurch aufgeweicht werden, dass es nicht Tamas' eigene Einstellungen sind, sondern die seiner Großeltern und Eltern. Dass diese Aussagen nichts sein können als absoluter Mist, sollte sich daraus ablesen lassen, dass sie als kriegstreiberische Propaganda genutzt wurden oder daraus entstanden sind. Sie aber – ohne weitere Diskussion und ohne Tamas' eigene Einstellung dazu klarer zu machen – stehen zu lassen, könnte gefährlich sein.
VEREINFACHUNG DURCH KOMPLEXITÄT
„Wer ist schuld, wenn am Ende alle im Arsch sind?”, fragt Tamas. Für die Zivilbevölkerung mag das stimmen, und die Situation im Jugoslawien-Krieg mag komplex gewesen sein. Eine wichtige Frage, denn außer politischen Machthaber·innen gibt es wirklich niemanden, der in einem Krieg gewinnen kann. Allerdings lässt sich die Vereinfachung, die in Tamas’ Frage steckt, nicht auf alle Situationen übertragen, weil sie impliziert, dass Krieg „einfach so passiert“ und nicht das Resultat einer gezielten Entscheidung für kriegerische Handlungen ist. Gerade im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gibt es einen klar zu benennenden Aggressor. Es gibt also immer jemanden, der angefangen hat, und immer jemanden, der sich entscheidet oder sich dazu gezwungen sieht, mit Gewalt zu antworten. Dass Tamas den Überblick darüber verloren hat, wer im Jugoslawienkrieg „schuld ist”, ist allerdings verständlich.
Vor diesem Hintergrund geht fast unter, was die eigentliche zentrale Erkenntnis des Stückes sein soll: Krieg passiert nicht nur zwischen Parteien mit unterschiedlichen Überzeugungen. Krieg passiert immer auch zwischen Männern und Frauen. Tamas’ Eltern, so stellt sich heraus, hatten nie ein romantisches erstes Date. Seine Mutter war eine Kriegsgefangene, sein Vater der Leiter des Lagers, in dem sie festgehalten wurde. Implizit kommt heraus, dass Tamas das Ergebnis einer Vergewaltigung sein könnte. Beide sind separat nach Deutschland geflüchtet, und seine Mutter will mit diesem Mann nichts mehr zu tun haben. Äußerst nachvollziehbar. Man will sich nicht ausmalen, wie Tamas sich fühlte, als er das herausgefunden hat.


Scheidungspanik auf der Titanic (Kopie 1)
Alex Byrne inszeniert einen Abend über ein Mädchen, das vor der Realität und ihren streitenden Eltern in eine Fantasiewelt flieht. "Freddie ... " bedient ein etwas zu traditionelles Familienbild, überzeugt aber mit szenischem Einfallsreichtum
Text: Svenja Plannerer
Freddie ist verzweifelt. Erst haben ihre Eltern ständig gestritten. Jetzt schweigen sie nur noch. Was soll sie nur tun? Regisseur Alex Byrne und das Ensemble des Theater Mummpitz beschäftigen sich anhand der Figur der quirligen Freddie mit dem Thema Scheidung. Was denken und fühlen Kinder, wenn die große Katastrophe sich am Horizont abzeichnet? Wird die Familie zerschellen wie die Titanic am Eisberg?
Christine Mertens ist Freddie, ein neunjähriges Mädchen mit einer fast beängstigenden Faszination für Katastrophen, wie etwa die Zerstörung von Pompeji, den Absturz der Hindenburg oder eben der Untergang der Titanic. Als sie, aus Mangel an anderen Möglichkeiten, am Frühstückstisch einen Wasserkrug ausgießt, um ihre schweigenden Eltern auf sich aufmerksam zu machen, flutet sie damit ihre ganze Straße und findet sich auf wundersame Weise an einem Hafen wieder. Ein munterer Seemann nimmt sie mit an Bord des größten, vermeintlich unsinkbaren Schiffes.
Freddie sieht schwarz
Zu nahezu durchgehender musikalischer Untermalung mit Gitarre, Klavier, Ukulele und Klarinette erkundet Freddie das Schiff und seine Passagiere. Sie haben alle unterschiedliche Vorstellungen davon, was sie bezüglich der Situation mit ihren Eltern tun sollte. Madame Sirkowski beispielsweise, eine schillernde Französin mit Turban und perlenbesetztem Cape, überlässt ihren Mann einfach sich selbst und will fortan die Welt allein erleben. Der Matrose, der das Deck schrubbt, meint, Witze erzählen reicht. Der Kapitän ist der festen Überzeugung, mit Teamwork könne man alles überstehen. Die drei beweisen damit gleich, dass auch Erwachsene nicht immer eine passende Antwort haben.
Freddie sieht weiterhin schwarz. Selbst der griesgrämige, aber trotzdem weichherzige Zahlmeister kann sie mit seiner Sandwich-Metapher nicht aufheitern. Denn ein leckeres Sandwich, selbst geteilt, bleibe ein leckeres Sandwich, genau wie eine Familie. Ob dieses Bild so stimmig ist, lässt sich anzweifeln. Dass alle überhaupt eine Familie haben, wird hier als gesetzt betrachtet, genauso wie das müde Modell der Kernfamilie mit Vater, Mutter, Kind. In diesem Boot, so der Abschlusssong des Stückes, würden alle sitzen, und auch wenn nicht immer alles glatt laufe, so sei es doch schön, eine Familie zu haben. Das mag stimmen. Allerdings gibt es Menschen, die womöglich keine biologische Familie mehr haben, nicht mehr bei ihrer Familie leben, den Kontakt verloren oder abgebrochen haben. Manche sind mit ihrer sogenannten „chosen family” viel glücklicher. „Freddie” bietet ein Scheidungsszenario, das glimpflich ausgeht, und will damit Hoffnung vermitteln. Aber das ist nicht immer so. Friede-Freude-Eierkuchen ist nicht für alle Realität.
Eine Reise in die Gefühlswelt von Kindern
Inhaltlich bleiben Lücken, insgesamt findet das Stück aber einen sensiblen Umgang mit dem Thema. Die szenische Umsetzung des Stückes ist bis ins kleinste Detail getaktet und macht deshalb umso mehr Spaß. Kostümwechsel und Umbauten fallen kaum auf, so gut sind sie in den Handlungsfluss integriert. So verwandelt sich die simple Bühne, auf der kaum mehr steht als ein umgebauter Schrank, ein Sofa und ein Klavier, mal vom Haus der Familie in den Salon der ersten Klasse auf dem Schiff, ins Büro des Zahlmeisters und sogar ins Krähennest. Sabine Zieser und Michael Schramm sind Margarete und Rüdiger, Freddies Eltern, die sich durch ihr Klarinettenspiel und seine Gitarrengriffe anfeinden und später in Madame Sirkowski und den schrubbenden Matrosen verwandeln. Michael Bang im Morgenmantel ist Freddies Opa, in der smarten blauen Uniform wird er zum Schiffskapitän – die Pfeife im Mund bleibt in beiden Rollen.
In ihrem Spiel machen sie deutlich, wie weit die Welten von Erwachsenen und Kindern voneinander entfernt sind. Manchmal ignorieren sie Freddie, reden über ihren Kopf hinweg, vergessen ihre Anwesenheit oder benutzen sie als Ausdrucksmittel ihrer Frustration. Wenn sie mit ihr direkt sprechen, dann selten über sie als eigenständige Person mit eigenständigen Gedanken – die brechen dann meistens einfach aus dem Mädchen heraus – sondern eher über Freddie in Beziehung zu ihren Eltern. Freddies Unbedarftheit jedoch, mit der sie den Erwachsenen begegnet, sorgt für viel Komik durch unschuldige Missverständnisse. Aus simpelsten Mitteln wird hier mit etwas Theatermagie, Musik und Imagination eine Reise durch die Gefühlswelt von Kindern, die Platz schafft für die Katastrophen, die sonst überhört werden würden.


Wenn wir bunt sind, sind wir Held·innen
Michai Geyzen inszenierte an der Münchner Schauburg das Physical Theatre „Superheores letzte Schacht“. Die Produktion begleitet fünf Superheld:innen aus einem Waschsalon über nationale Notstände in die wilde Welt der Care-Arbeit
Text: Marie-Luise Wenzel
Das Telefon klingelt, und die Welt ruft an. Ein Löwe ist aus dem Zoo ausgebrochen. Ein Kind möchte eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen bekommen. Michai Geyzens Physical Theatre „Superheroes letzte Schlacht“, das an der Schauburg in München Premiere feierte und nun am Südwind-Festival für Junges Publikum in Nürnberg gastiert, nimmt uns mit auf die Suche nach Superheld:innen und Held:innen des Alltags – und fragt sich, ob dazwischen überhaupt ein Unterschied besteht?
Gefunden werden diese (Super-)Held:innen zunächst in einem Waschsalon. Die vier Superheld:innen, gespielt von David Campling, Janosch Fries, Franzy Deutscher und Michael Schröder erscheinen in weißen Kostümen, die an Wäscheberge erinnern. Langsam beginnen sie sich zu bewegen und fügen sich nahtlos in die schwarz- weiß gehaltene Bühne ein. Neben überdimensionierten Waschmaschinen weisen einzelne Bühnenelemente auf den gezeichneten, skizzierten Stil der Ausstattung von Anja Furthmann und Sharon Smadja hin, der an Comic-Zeichnungen erinnert und vermuten lässt, dass sich Held:innen wie diese nicht immer in einem Waschsalon finden lassen müssen.
(Fast) Ohne Worte
Zu Beginn der Vorstellung bricht allein das Kostüm von Sibel Polat das schwarz-weiße Farbkonzept: mit Jeans und nicht mehr ganz sauberem T-Shirt gibt sie ein realistisch gezeichnetes Bild einer Alltagsheldin ab. Großzügig teilt sie ihr Wissen über die Aufgaben, denen sie sich im Wäschesalon stellen muss, mit dem Publikum und mit den überforderten Superheld:innen, die in einer Welt, in der es vordergründig keine Heldentaten zu bestreiten gibt, ihren Halt verloren haben.
Mit viel Körperlichkeit und fast ohne Sprache wird Care-Arbeit wie Wäschewaschen mit klassischen Superhelden-Gesten verbunden. Repetitive Choreografien von Michai Geyzen überführen Emotionen in ausladende Bewegungen; die Dialoge der Figuren werden in Fantasiesprache geführt – ohne sich hierbei über jemand anderen lustig zu machen als über sich selbst. So kann der ausgestreckte Arm von Superman auch genutzt werden, um mit viel Schwung einen Berg Wäsche in die Maschine zu befördern.
Ganz ohne Worte kommt die Vorstellung dann aber leider doch nicht aus; für ein nicht-hörendes Publikum könnten sich gewisse Handlungen oder Witze nicht erschließen, die sich beispielsweise auch in der detailreichen Soundkulisse von Ephraïm Cielen äußern. Diese betont die comic-artige Ästhetik der Produktion noch einmal, ohne sich dabei an Mitteln des Clownstheaters zu bedienen und tritt auch ganz direkt mit den Geschehnissen auf der Bühne in Interaktion.
Aus Weiß wird Bunt
Performance und Technik reagieren aufeinander. Durch den konstanten Wechsel von Impuls und Reaktion entsteht ein Spiel zwischen Bewegung, Sound, Video und Licht. So verändern sich die eher kalten, weißen Lichtstimmungen des Grundkonzepts in den entscheidenden Momenten und passen sich den Farben der bunten Requisiten an, die die Superheld:innen immer wieder aus den Waschmaschinen ziehen.
„Superheroes letzte Schlacht“ interpretiert Waschmaschinen amüsant als Orte, an denen Dinge für immer verschwinden und wie aus dem Nichts wieder zum Vorschein kommen. Nicht nur Requisiten oder Kostüme verschwinden in den großen Trommeln, sondern auch die Performer:innen selbst. Kleine Wäscheunfälle begeistern das junge wie erwachsene Publikum dabei besonders. Gelungene Schleudergänge werden in „Superheroes letzte Schlacht“ genauso anerkannt und mit Applaus versehen wie die Abwendung eines Drohnenangriffs oder das Säubern des Katzenklos. Jedoch erfahren wir von den Aufträgen der Heldentaten immer nur am Telefon. Die Ausführung wird in der genannten Comic-Ästhetik auf der Bühne nacherzählt. Allerdings, wie so oft: gesehen werden sie nicht.
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